Urteil im Abgasskandal, Landgericht Berlin, Urteil vom 23.03.2021, Aktenzeichen: 23 O 156/20
In dem Rechtsstreit
Im Namen des Volkes Urteil
– Kläger –
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Ghendler Ruvinskij Rechtsanwälte PartG mbB, Aachener Straße 1, 50674 Köln, Gz.: 323333-20
gegen
Volkswagen AG, vertreten durch d. Vorstand, dieser vertreten durch Herbert Diess, Oliver Blume, Gunnar Kilian, Andreas Renschler, Abraham Schott, Dr. Stefan Sommer, Hiltrud Werner, Frank Witter, Berliner Ring 2, 38440 Wolfsburg
– Beklagte –
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft, Alfredstraße 277, 45133 Essen, Gz.: RKL20007269
hat das Landgericht Berlin – Zivilkammer 23 – durch den Richter am Landgericht Hegermann als Einzelrichter aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 05.02.2021 für Recht erkannt:
- Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 22.710,57 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 24. Juni 2020 zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges Volkswagen Tiguan Sport & Style 4Motion 2,0 l TDI 125 kW.
- Es wird festgestellt, dass die Beklagte sich mit der Entgegennahme des Fahrzeugs aus dem Tenor zu 1. in Annahmeverzug befindet.
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- Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger 1.242,84 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 24. Juni 2020 für die außergerichtliche anwaltliche Rechtsverfolgung zu zahlen.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 15 % und die Beklagte 85 %.
- Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Der Kläger darf die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor ihrer Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem beklagten Fahrzeug- und Motorenhersteller, einer Aktiengesellschaft, die Zahlung von Schadensersatz nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten auf deliktischer Grundlage.
Mit verbindlicher Volkswagen-Bestellung vom 27. Oktober 2012 bestellte der Kläger bei der Volks wagen Automobile Berlin GmbH, einer Vertragshändlerin der Beklagten, den aus dem Urteilstenor zu 1. ersichtlichen Neuwagen VW Tiguan. Der Wagen wurde ihm unmittelbar nach am 12. April 2013 erfolgter Erstzulassung am 15. April 2013 mit einem Kilometerstand von 7 km übergeben. Vereinbart war ein Netto-Kaufpreis von 34.982,50 EUR, der sich zuzüglich Nebenkosten und Um
satzsteuer auf einen Brutto-Gesamtbetrag von 42.164,17 EUR belief (Anlagenkonvolut zur Klage schrift), den der Kläger bezahlte.
Der Wagen ist serienmäßig mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA 189 ausgestattet, der über ein Abgasrückführungssystem zur Verminderung des Ausstoßes von Stickoxiden verfügt. Dabei war die Software des Motors mit einer Umschaltlogik versehen, die zwei unterschiedliche Betriebsmodi aktivierte, je nachdem, ob das Fahrzeug im normalen Straßenverkehr oder im Prüfstand betrieben wurde. Im Prüfstand-Modus arbeitete das System mit ei
ner höheren Abgasrückführungsquote und damit mit einem geringeren Ausstoß von Stickoxiden als im Straßen-Modus.
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Im Februar 2016 informierte die Beklagte den Kläger per Anschreiben darüber, dass das streitgegenständliche Fahrzeug mit dem Motor des Typs EA189 ausgestattet sei, dessen Steuerung vom Kraftfahrtbundesamt beanstandet worden sei, und informierte ihn über die Modalitäten des durchzuführenden Software-Updates der Motorsteuerung.
Mit Anwaltsschreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 21. April 2020 (Anlagenkonvolut zur Klageschrift) forderte der Kläger die Beklagte unter Bezugnahme auf die vorgenannte Abschalteinrichtung unter zweiwöchiger Fristsetzung fruchtlos zur Rückzahlung des um eine Nutzungsentschädigung zu mindernden Kaufpreises gegen Rückgabe des Fahrzeugs auf.
Zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung wies der streitgegenständliche Wa gen einen Kilometerstand von 138.417 km auf.
Der Kläger behauptet mit seiner am 23. Juni 2020 zugestellten Klage, dass die Beklagte die Ab schalteinrichtung mit Kenntnis ihres Vorstandes in die Motoren des Typs EA 189 eingebaut habe, um so die Voraussetzungen der Abgasnorm EU 5 zu erschleichen und den Verbrauchern dem gemäß minderwertige Fahrzeuge zukommen zu lassen. Dies sei aus Profitgier geschehen. Hätte er von dieser Manipulation gewusst, so hätte er das Fahrzeug nicht gekauft. Nutzungsvorteile müsse er sich zwar anrechnen lassen, dies allerdings nur auf Grund einer von ihm behaupteten
Gesamtfahrleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs von 350.000 km. Seine Ansprüche hält er für unverjährt, meint jedoch, dass ihm selbst im Falle der Verjährung der regulären Scha denersatzansprüche gemäß § 852 BGB ein sogenannter Restschadenersatzanspruch zustehe, der sich der Höhe nach auf den erzielten Gewinn oder aber auf den von ihm gezahlten Kaufpreis abzüglich der Händlermarge belaufe.
Er beantragt mit seiner am 23. Juni 2020 zugestellten Klage nach Teilrücknahme eines auf § 849 BGB gestützten Zinsbegehrens zuletzt,
- die Beklagte zu verurteilen, an ihn 26.791,05 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent- punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB ab Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges Volkswagen Tiguan Sport & Style 4Motion 2,0 l TDI 130 kW,
- festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Entgegennahme des Fahrzeugs aus dem Antrag zu 1. in Annahmeverzug befindet, und
- Die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.358,86 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozent
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punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit für die außergerichtliche anwaltliche Rechtsverfolgung zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf die Einrede der Verjährung, hält die beschriebene Softwaresteuerung zur Re gelung der Abgasrückführung für europarechtlich richtlinienkonform, führt aus, dass es nach ihrer bisherigen internen Prüfung keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass ihre Vorstandsmitglieder Kenntnis von der vorgenannten Softwaresteuerung gehabt hätten, hält diese aber jedenfalls nicht für sittenwidrig und behauptet, dass die von ihr unstreitig angebotene Softwarenachbesserung ein etwaiges Abgasproblem ohne weitere Nebenwirkungen löse. Im Hinblick auf die Berechnung ei
nes etwaigen Abzugs für Nutzungen behauptet sie eine zu berücksichtigende Gesamtfahrleistung von 200.000 bis 250.000 km. Die Beklagte vertritt schließlich die Auffassung, dass dem Kläger auch kein Restschadenersatzanspruch aus § 852 BGB zustehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die insgesamt zulässige Klage hat in der Sache in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen überwiegenden Umfang Erfolg. Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB sowie gemäß §§ 823 II BGB, 263 StGB ein auf Rückabwicklung des Kaufs gerichteter Schadensersatzanspruch zu. Dieser Anspruch ist zwar verjährt, besteht indes in Form des noch unverjährten Restschadenersatzan spruchs gemäß § 852 BGB auf Grund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles in voller Höhe weiter. Der Kläger muss sich den Wert der von ihm durch das bislang unbeeinträchtigte Fahren mit dem streitgegenständlichen Fahrzeug gezogenen Nutzungen auf der Grundlage einer anzunehmenden Gesamtfahrleistung von 300.000 km, also in Höhe von 19.453,60 EUR, abziehen lassen. Die Beklagte befindet sich mit der Annahme der ihr angebotenen Zug-um-Zug-Leistung in Verzug. Ferner hat die Beklagte den Kläger von den vorgerichtlich entstandenen Anwalts kosten zu befreien, dies allerdings lediglich auf der Grundlage eines Gegenstandswertes von bis
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zu 25.000,00 EUR unter Zugrundelegung einer 1,3fachen Geschäftsgebühr nebst Auslagenpau schale und Umsatzsteuer. Im Einzelnen:
Ein Schadenersatzanspruch gemäß § 826 BGB und gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB besteht. Denn durch das bewusste Inverkehrbringen eines für die Euro-5-Norm tatsächlich nicht geeigneten Motors hat die Beklagte den gesamten Rechtsverkehr, also auch den Kläger, vorsätzlich über die materiellen Voraussetzungen der Betriebserlaubnis des Fahrzeugs getäuscht und ihn hierdurch dazu gebracht, einen Kaufvertrag abzuschließen, dessen Preisgestaltung erkennbar an einem mangelfreien Fahrzeug orientiert war. Hierdurch ist dem Kläger ein Schaden entstanden, den die Beklagte vorsätzlich in ihren Tatplan aufgenommen hat. Dieses Vorgehen ist auch als sittenwidrig zu bewerten.
- Dass die von der Beklagten verbaute Abgassteuerung eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt mit der Folge, dass die Typengenehmigungsvoraussetzungen trotz der tatsächlich erteil ten Genehmigung nicht vorgelegen haben, steht fest. Die von der Beklagten insoweit vertretene Ansicht, dem Rechtsverkehr sei lediglich ein Motor geschuldet, der auf dem Prüfstand die Nor men einhalte, ist in dieser Allgemeinheit abwegig und unvertretbar. Zwar trifft es zu, dass auf dem Prüfstand eine Fahrt zum Maßstab gemacht wird (konstante Geschwindigkeit ohne Abbremsen, erneutes Anfahren und Lenken), die im Alltagsverkehr kaum vorkommen wird, weshalb auch al lein aus dem Umstand, dass der Stickoxidausstoß im Alltagsverkehr höher ist als auf dem Prüf stand, noch nicht gefolgert werden kann, dass ein Verstoß gegen die Voraussetzungen der Ty pengenehmigung vorliegt. Allerdings liegt der Fall hier so, dass die Abweichung nicht durch das konkrete Fahrverhalten verursacht wird, sondern dadurch, dass infolge der Softwaregestaltung auf dem Prüfstand ein Modus der Abgasreinigung aktiviert wird, der im Straßenverkehr überhaupt nicht wirksam ist. Dass aber die Typengenehmigungsvoraussetzungen nicht vorliegen können, wenn dem Prüfstand lediglich eine Abgasreinigung vorgegaukelt wird, die im Straßenverkehr überhaupt nicht zum Einsatz kommt, ist so selbstverständlich, dass es erstaunt, dass die Be klagte und ihre Rechtsvertreter ernstlich das Gegenteil geltend machen können.
Auch der Bundesgerichtshof (Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – Rn. 17-18, „juris“; Beschluss vom 08.01.2019 – VIII ZR 225/17 – Rn. 6 ff, „juris“) ordnet die von der Beklagten verbaute Steue rung der Abgasreinigung demzufolge zu Recht als unzulässige Abschalteinrichtung ein.
- Die Installation dieser Abschalteinrichtung geschah auch jedenfalls mit Kenntnis und Billigung, also mit Vorsatz des Vorstands der Beklagten, wofür die Beklagte gemäß § 31 BGB einzustehen
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hat.
Den entsprechenden Vortrag hat die Beklagte zwar bestritten, dies allerdings unter Verstoß ge gen ihre prozessuale Pflicht aus § 138 Abs. 1 und 2 ZPO zur vollständigen und wahrheitsgemä ßen Erklärung über die von der Gegenseite, hier: dem Kläger, vorgetragenen Tatsachen, was die Geständniswirkung des § 138 Abs. 3 ZPO zur Folge hat.
Denn im hier vorliegenden Fall des flächendeckenden Einbaus einer komplexen Motorensteue rung in der Sphäre der Beklagten, in die der Kläger naturgemäß keinerlei Einblick hat, wäre es für ein wirksames Bestreiten der behaupteten Kenntnis des Vorstandes Voraussetzung, dass die Beklagte minutiös dargelegt hätte, durch wen und in welcher Weise es zu der Erfindung und zu dem Einbau der streitgegenständlichen Motorsteuerung gekommen ist (sekundäre Darlegungs
last). Der insoweit an Pauschalität nicht zu überbietende Vortrag der Beklagten, sie habe derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass Kenntnis auf Vorstandsebene vorgelegen habe, ist offenkundig eine Verweigerung der vollständigen Erklärung über die von der Gegenseite behaupteten Tatsa chen, der mit der Folge aus § 138 Abs. 3 ZPO zu begegnen ist.
- Durch die entsprechende Täuschung über die Typengenehmigungsvoraussetzungen wurde der Kläger auch zum Abschluss des Kaufvertrages über das streitgegenständliche Fahrzeug be stimmt. Denn es versteht sich von selbst, dass ein Kaufinteressent keinen am Marktwert eines mangelfreien Fahrzeugs orientierten Kaufpreis gezahlt hätte, wenn er gewusst hätte, dass infolge des Nichtvorliegens der materiellen Typengenehmigungsvoraussetzungen die Stilllegung des Fahrzeugs droht (ebenso: BGH, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19 – Rn. 49).
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Beklagte die Kausalität ihrer Handlung für den Abschluss des Kfz-Kaufvertrages durch den Kläger bestritten hat. Denn insoweit gilt zunächst die Vermutung des aufklärungsrichtigen Verhaltens: Das bedeutet, dass – widerleglich – davon aus gegangen werden kann, dass der Kläger das streitgegenständliche Fahrzeug in Kenntnis der ma nipulierten Abgassteuerung nicht gekauft hätte. Es wäre demnach Sache der Beklagten gewe sen, das Gegenteil darzulegen und zu beweisen. Die Beklagte ist insoweit aber bereits an der
Darlegungsebene gescheitert. Denn es genügt nicht, die Kausalität der Verletzungshandlung für den Vertragsschluss einfach zu bestreiten; vielmehr hätte die Beklagte tatsächliche Umstände darlegen müssen, aus denen nachvollziehbar zu entnehmen wäre, dass der Kläger in den Jahren 2012/2013 auch eine manipulierte Abgassoftware akzeptiert hätte. Derartige Umstände trägt die Beklagte jedoch nicht vor: Denn die von ihr ins Spiel gebrachte Tatsache, dass sich der Kläger
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bei ihr erst mehrere Jahre gemeldet habe, nachdem er über die Betroffenheit seines Fahrzeugs in Kenntnis gesetzt worden war, ist nicht hinreichend aussagekräftig.
- Dem Kläger ist durch die unzulässige Abschalteinrichtung auch ein Vermögensschaden ent standen, und zwar in Form des Abschlusses eines für ihn nachteiligen Kaufvertrages. Denn tat sächlich war das von ihm gekaufte mangelbehaftete Fahrzeug weniger Wert als angenommen und dem Kaufvertrag zu Grunde gelegt. Der Kläger wurde damit in jedem Fall mit einer Verbind lichkeit belastet, die er bei Kenntnis des ihm verschwiegenen Mangels in dieser Form nicht ein gegangen wäre (ebenso: BGH, a.a.O., Rn. 47).
Der entsprechende Schaden entfällt auch nicht durch die Möglichkeit der bzw. die etwa stattge fundene Durchführung eines Software-Updates. Denn das Update ist deshalb nicht zu berück sichtigen, weil der Schaden bereits mit Abschluss des (nachteiligen) Kaufvertrages eingetreten ist und dem Deliktsrecht eine Nacherfüllungspflicht fremd ist. Ein ungewollter Vertragsabschluss bleibt auch dann ungewollt, wenn sich Jahre später die Möglichkeit einer Schadensbegrenzung ergibt (BGH, a.a.O., Rn. 58; OLG Koblenz, Urt. v. 12.06.2019 – 5 U 1318/18 – Rn. 98, „juris“).
- Der Vorstand der Beklagten, von dessen Kenntnis und Billigung der Abschalteinrichtung auszu gehen ist (s.o. unter I. 2.), handelte bei der Installation der Abschalteinrichtung auch sittenwidrig. Denn die Abschalteinrichtung war auf Vorspiegelung der tatsächlichen Voraussetzungen für die Typengenehmigung gerichtet. Dass dies nur zum Zwecke der Gewinnmaximierung und unter vor sätzlicher Missachtung umweltrechtlicher Vorschriften geschehen konnte, liegt auf der Hand. Ein solches Verhalten kann nur derjenige als nicht sittenwidrig ansehen, der vollkommen deformierte Vorstellungen von gesellschaftlichen Verhaltensnormen hat.
Als Rechtsfolge ist der Kläger so zu stellen wie er stünde, wenn er den Kaufvertrag im Jahr 2012 nicht abgeschlossen hätte. Grundsätzlich kann der Kläger also Erstattung des von ihm gezahlten Kaufpreises Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs verlangen.
Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass der Kläger das Fahrzeug jahrelang tatsäch lich unbeeinträchtigt genutzt hat. Diese Nutzung muss er sich von seinem Ersatzanspruch abzie hen lassen, weil anderenfalls eine Überkompensation des Schadens eintreten würde. Die Nut
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zungen errechnen sich dabei aus dem Produkt aus von dem Kläger gezahltem Brutto-Kaufpreis (42.164,17 EUR) und den von ihm gefahrenen Kilometern (138.410 km = 138.417 km – 7 km), ge teilt durch die bei Erwerb noch verbleibende Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs. Die Gesamtlauf leistung des von dem Kläger im Jahr 2013 erworbenen Neufahrzeugs schätzt die Kammer (§ 287 ZPO) auf 300.000 km, wovon in Anbetracht des bei Übergabe bereits bestehenden Kilometer standes von 7 km noch 299.993 km zu berücksichtigen sind. Hieraus errechnen sich abzuzie hende Nutzungen in Höhe von 19.453,60 EUR. Der Kaufpreis von 42.164,17 EUR ist um diesen Betrag zu reduzieren, so dass 22.710,57 EUR als begründeter Anspruch verbleiben.
III.
Die vorgenannten, auf §§ 826, 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB gestützten Ansprüche sind indes ver jährt (dazu unter 1.). Das ändert im vorliegenden Sonderfall allerdings nichts, weil dem Kläger aus § 852 BGB ein unverjährter Restschadenersatzanspruch zusteht, der den unter I. und II. be rechneten Schadenersatzanspruch der Höhe nach übersteigt mit der Folge, dass dem Kläger ge mäß § 852 BGB ein durchsetzbarer Anspruch in der durch den verjährten Anspruch begrenzten
Höhe zusteht (dazu unter 2.).
- Die unter I. behandelten Schadenersatzansprüche des Klägers sind verjährt. Verjährung ist spätestens mit Ablauf des Kalenderjahres 2019 eingetreten.
Gemäß §§ 195, 199 Abs. 1 BGB verjähren Schadenersatzansprüche der vorliegenden Art nach Ablauf von drei Jahren nach dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger (hier: der Kläger) von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners (hier: der Beklagten) Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.
Nach der in einem Parallelverfahren ergangenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. Dezember 2020 (VI ZR 739/20 – Rn. 17 ff, „juris“), der sich die Kammer anschließt, sind die Vor aussetzungen des § 199 Abs. 1 BGB jedenfalls dann erfüllt, wenn der Erwerber (hier: der Kläger) von der individuellen Betroffenheit seines Fahrzeugs im Abgasskandal positive Kenntnis erlangt. Das war hier unstreitig im Februar 2016 der Fall, als dem Kläger die Betroffenheit seines Fahr
zeugs offengelegt wurde.
Der Lauf der Verjährung begann damit spätestens mit Ablauf des Jahres 2016, und die Verjäh rung trat ein mit Ablauf des Jahres 2019. Verjährungshemmende Maßnahmen hat der Kläger vor
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Verjährungseintritt nicht ergriffen. Die hiesige gerichtliche Geltendmachung im Jahr 2020 erfolgte bereits nach Verjährungsvollendung und kam damit zu spät.
- Gemäß § 852 BGB bleibt allerdings der Schuldner eines deliktischen Schadenersatzan spruchs auch nach Eintritt der Verjährung dieses Anspruchs verpflichtet, dasjenige nach den Vor schriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff BGB) herauszu geben, das er durch die unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten bzw. Geschädigten er langt hat.
Die Vorschrift ist auf die hier gegebene Konstellation anwendbar und führt in Verbindung mit § 812 Abs. 1 BGB dazu, dass die Beklagte verpflichtet wäre, dem Kläger den von ihm entrichteten Net to-Kaufpreis für das Neufahrzeug (34.982,50 EUR) abzüglich der Händlermarge des Vertrags händlers (hier: Volkswagen Automobile Berlin GmbH) herauszugeben. Da indes dieser Anspruch betragsmäßig den verjährten Anspruch aus § 826 BGB (bzw. aus §§ 823 Abs. 2 BGB in Verbin dung mit § 263 StGB) übersteigen würde, wird der Anspruch der Höhe nach durch den Betrag
des verjährten Anspruchs (22.710,57 EUR) gedeckelt.
Im Einzelnen:
- a) Die Anwendung von 852 BGB beschränkt sich nicht auf Konstellationen, in denen es zu einer unmittelbaren Vermögensverschiebung zwischen Schädiger und Geschädigtem kommt; vielmehr sind sämtliche Konstellationen erfasst, in denen der Vermögenszuwachs des Schädigers in ur sächlichem Zusammenhang mit der Schädigungshandlung steht (vgl. BGH, Urteil v. 26.03.2019 – X ZR 109/16 – Rn. 21, „juris“), insbesondere auch die Konstellation, dass die Vermögensverschie bung dem Schädiger durch seine Vertragspartner vermittelt worden ist (BGH, Urteil v. 14.02.1978 – X ZR 19/76 – Rn. 63, „juris“). Daraus folgt: Der Umstand, dass der Kläger seine Kaufpreiszah lung an die Verkäuferin, die Vertragshändlerin der Beklagten, geleistet hat und nicht direkt an die Beklagte, führt nicht etwa zur Unanwendbarkeit des § 852 BGB. Dass aber die Beklagte auf Grund des vorliegenden Neuwagenkaufs – auf welchem Wege auch immer – bei wirtschaftlicher Betrachtung einen Anteil des von dem Kläger an die Verkäuferin gezahlten Kaufpreises erhalten hat, kann nicht ernstlich zweifelhaft sein und wird von ihr auch nicht in Abrede gestellt.
- b) Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Oldenburg (Hinweisbeschluss 05.01.2021 – 2 U 168/20 – S. 6-7) sind von der Anwendung des § 852 BGB auch nicht etwa die Fälle ausgenom men, in denen der Schädiger dem Geschädigten – wie auch hier – lediglich einen Schaden in Form des Eingehens einer ungewollten Verbindlichkeit zufügt. Denn das OLG versteht die von ihm zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Februar 1978 (a.a.O.) miss: Indem
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der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung eine „wirtschaftliche“ Betrachtung anstellte, ging es ihm, anders als das OLG meint, nämlich gerade nicht darum, bestimmte Formen des Scha dens vom Anwendungsbereich des § 852 BGB auszuschließen, sondern allein darum, zu be gründen, weshalb für die Anwendbarkeit des § 852 BGB trotz des Merkmals „auf Kosten“ eine un mittelbare Vermögensverschiebung zwischen Schädiger und Geschädigtem nicht erforderlich ist. Der Bundesgerichtshof stellt folglich auf den Wirtschaftlichkeitsbegriff ab, um den Anwendungs bereich des § 852 BGB auszudehnen, und gerade nicht, um ihn einzuschränken. Aus der Recht sprechung des Bundesgerichtshofs kann somit nicht abgeleitet werden, dass § 852 auf Fälle der vorliegenden Art nicht anzuwenden sei.
- c) Entgegen der auf Martinek (“Die Abwicklung des Dieselskandals über 852 Satz 1 BGB – Ret tungsanker oder Rohrkrepierer? (Teil 2)“, in: jM 2021, 56 ff) gestützten Ansicht der Beklagten ist der Anwendungsbereich des § 852 BGB nicht auf Fälle des Bestehens bestimmter besonderer Prozesskostenrisiken teleologisch zu reduzieren (wie hier: LG Landshut, Urteil v. 04.03.2021 – 75 O 2668/20 – Rn. 33, „juris“). Der Umstand, dass sich der Kläger nicht an der gegen die Beklagten geführten Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Braunschweig beteiligt hat, ist mithin ohne Belang.
- d) Schließlich spricht auch die weitere, von der Beklagten zitierte Rechtsprechung nicht gegen die Anwendbarkeit des 852 BGB auf den vorliegenden Fall eines Neuwagenkaufs:
– Das von der Beklagten eingereichte Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 06. Oktober 2020 (I-46 U 15/19 – UA S. 6) enthält zu § 852 BGB nur den Satz, dass das „Vorliegen eines sog. Restschadens im Sinne des § 852 Satz 1 BGB, auf dessen Ersatz ein Anspruch bestehen könn te,“ nicht ersichtlich sei. Dabei handelt es sich ganz offensichtlich nicht um grundsätzliche Aus führungen zum Anwendungsbereich des § 852 BGB, sondern lediglich um eine allzu kurze Zu rückweisung unsubstanziierten Sachvortrags.
– Die Entscheidung des Landgerichts Osnabrück vom 03. Juli 2020 (6 O 842/20, UA S. 10-11 un ter II.) ist nicht einschlägig. Denn sie bezieht sich ausschließlich auf den hier nicht vorliegenden Fall eines Gebrauchtwagenkaufs. Die Frage dagegen, ob dem Neuwagenkäufer eines vom Die selskandal betroffenen Fahrzeugs ein Anspruch aus § 852 BGB zustehen könne, wird vom Land gericht Osnabrück (a.a.O.) ausdrücklich offen gelassen.
- e) Im Sinne von 852 BGB „erlangt“ hat die Beklagte den um die Vertragshändlermarge reduzier ten Kaufpreis (ebenso: Augenhofer, „Musterfeststellungsklage – offene Fragen zur Verjährung“, in: VuR 2019, 83, 86), wobei klarzustellen ist, dass auf den Netto-Kaufpreis abzustellen ist, weil die
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Umsatzsteuer nicht der Beklagten zufließt bzw. ihr nicht verbleibt. Dagegen ist das „Erlangte“ nicht etwa im „verdienten Gewinn“ des Herstellers zu sehen (so aber Martinek, „Die Abwicklung des Dieselskandals über § 852 Satz 1 BGB – Rettungsanker oder Rohrkrepierer? (Teil 1)“, in: jM 2021, 9, 12-14). Denn zum einen steht es außer Frage, dass es der um die Händlermarge redu zierte und von dem Kläger gezahlte Kaufpreis ist, der der Beklagten auf Grund ihrer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung bei wirtschaftlicher Betrachtung zugeflossen ist, wobei es keine Rolle spielt, auf welche Weise dieses Ergebnis erzielt wurde (z.B. Kommissionsgeschäft o.ä.), und zum anderen ist nicht ersichtlich, aus welchem Grunde es der Beklagten ermöglicht werden soll te, etwa die Kosten für die Entwicklung der Manipulationssoftware vom Herausgabeanspruch ab
zuziehen. Dem wirtschaftlichen Interesse der Beklagten wird vielmehr bereits dadurch ausrei chend Rechnung getragen, dass Ersatz nur Zug-um-Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu leisten ist. Schließlich stellt § 852 BGB auf das durch die unerlaubte Handlung „Erlangte“ ab und nicht auf den durch die unerlaubte Handlung erzielten „Gewinn“.
- f) Von dem Anspruch sind auch entgegen der Ansicht der Beklagten keine „bereicherungsmin dernden Posten“ Denn abgesehen davon, dass mehr als fraglich ist, ob sich die Be klagte als vorsätzlich sittenwidrige Schädigerin vor dem Hintergrund des § 819 BGB überhaupt auf den Fortfall oder die Minderung der Bereicherung im Sinne von § 818 Abs. 3 BGB berufen kann (vgl. dazu Sprau, in: Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, Rn. 8 zu § 819 BGB), kann eine (teilwei se) Entreicherung auch deshalb nicht festgestellt werden, weil die Beklagte lediglich bestimmte Posten benannt hat, ohne diesen Posten bestimmte Beträge zuzuordnen.
- g) Der maßgebliche um die Händlermarge reduzierte Netto-Kaufpreis liegt betragsmäßig noch über dem verjährten Schadenersatzanspruch aus 826 BGB. Dieser beträgt 22.710,57 EUR. Dagegen beläuft sich der von dem Kläger gezahlte Netto-Kaufpreis auf 34.982,50 EUR. Damit macht der verjährte Schadenersatzanspruch 64,92 % des Netto-Kaufpreises aus. Daraus folgt: Selbst wenn die vom Netto-Kaufpreis abzuziehende Händlermarge 35 % des Netto-Kaufpreises ausmachen würde, würde der Anspruch aus § 852 BGB den verjährten Anspruch aus § 826 BGB noch immer übersteigen.
Es darf dabei als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, dass die Händlermarge im Kfz-Neu wagengeschäft, wie hoch genau sie auch immer sein mag, jedenfalls nicht höher liegt als 35 %. Da aber der Herausgabeanspruch aus § 852 BGB der Höhe nach stets durch die Höhe des ver jährten Schadenersatzanspruchs begrenzt wird (in diesem Punkt zutreffend: Martinek, a.a.O., jM 2021, 9, 10 m.w.N.), beläuft sich der dem Kläger zustehende Anspruch der Höhe nach auf den
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unter II. ermittelten Schadenersatzbetrag von 22.710,57 EUR.
- h) Der so ermittelte Anspruch aus 852 S. 1 BGB ist auch nicht verjährt, weil seit dem Erwerb des streitgegenständlichen Kraftfahrzeugs noch keine zehn Jahre verstrichen sind (§ 852 S. 2 BGB).
- i) Rechtshängigkeitszinsen schuldet die Beklagte auf den begründeten Teil der Klageforderung gemäß § 291, 288 Abs. 1 BGB.
Die Beklagte befindet sich mit der Annahme des ihr angebotenen Kfz im Gläubigerverzug gemäß §§ 293 ff BGB. Denn der Kläger hat der Beklagten sowohl die Übergabe und Übereignung des Wagens angeboten als auch sich bereiterklärt, sich von dem gezahlten Kaufpreis eine Nutzungs entschädigung abziehen zu lassen.
Dem Kläger steht schließlich auf Grund der unerlaubten Handlung auch ein Anspruch auf Erstat tung der vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe einer 1,3fachen Geschäftsgebühr zuzüglich Aus lagenpauschale und Umsatzsteuer zu, dies allerdings nur nach einem Gegenstandswert von bis zu 25.000,00 EUR, da sich der Anspruch unter Zugrundelegung der auf lediglich 300.000 km zu schätzenden Gesamtlaufleistung bereits im April 2020, also zu der Zeit der vorgerichtlichen An waltsbeauftragung, auf unter 25.000,- EUR reduziert hatte. Für die Zinsforderung gelten auch hier §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
Hegermann
Richter am Landgericht
Verkündet am 19.03.2021
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