Was versteht man unter Sittenwidrigkeit?

Noch vor etwa zwanzig Jahren ging der Bundesgerichtshof davon aus, dass solange jemand volljährig und bei Verstand ist, er für seine Handlungen die volle Verantwortung übernehmen muss. So verhalte es sich eben in einer Rechtsordnung in der Privatautonomie herrscht. Demnach könne sich jeder nach Belieben verschulden und zwar in jeder erdenklichen Höhe.

1993 änderte sich das. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht über den Fall einer 21-jährigen Frau zu entscheiden, die trotz Ihres geringen Einkommens für die Schuld Ihres Vaters in Höhe von 100.000,00 DM die Bürgschaft übernahm. Die kreditgebende Bank nahm die Frau in Anspruch, diese wehrte sich, verlor in allen Instanzen und reichte letztendlich Verfassungsbeschwerde ein. Und sie hatte Erfolg. In Karlsruhe wurde eine jahrzehntealte Rechtsprechung gekippt.

Damals entschieden die Verfassungsrichter, dass es im Vertragsrecht Situationen gibt, bei denen die Privatautonomie einer Korrektur bedarf (BVerfGE 89, 214, 232).

Der Bürgschaftsvertrag der jungen Frau ist ein Paradebeispiel für ein solches Korrekturerfordernis. Zwischen ihr, der geschäftlich unerfahrenen Verbraucherin und der wirtschaftlich versierten und mächtigen Bank, herrschte ein derart grobes strukturelles Missverhältnis, dass die Bank im Wesentlichen die Vertragsbedingungen diktieren konnte.

Es sei nicht hinnehmbar, entschieden die Verfassungsrichter, dass sich ein Mensch allein aufgrund emotionaler Verbundenheit eine Verbindlichkeit aufhalst, unter deren Last er sein gesamtes Leben zu leiden hat. Eine Bank, die diese emotionale Verbundenheit ausnutzt, handelt moralisch verwerflich oder, um mit den Worten der Richter zu sprechen, „in sittlich anstößiger Weise.

Solche Verträge dürfen keinen Bestand haben.

Die junge Frau, die einen langen Weg bis zum Bundesverfassungsgericht gegangen ist, hatte schließlich gewonnen und wurde von der Zahlungspflicht frei.

2 Kommentare
  1. Andre Kraus
    says:

    Sehr geehrter Herr LIndemann,

    wir bitten Sie darum, uns nochmals per E-Mail zu kontaktieren, damit wir Ihren Sachverhalt überprüfen können.

    MfG RA A. Kraus

  2. Lindemann
    says:

    Hallo,
    wir hatten vor einiger Zeit schon einmal Kontakt. Es geht immer noch um die Prüfung der Sittenwidrigkeit einer
    Bürgschaft durch unsere Schwiegertochter.
    Leider können wir das derzeit nicht telefonisch abklären, da ich z.Zt. im Ausland bin. Also bitte Fakten und
    Angaben bitte per e-mail abfragen.
    Vielen Dank

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